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Interview

Das große Potenzial von VR für die medizinische Ausbildung – Interview mit der BARMER

Barmer Interview Gesundheitswesen

Über die Bedeutung von virtueller Realität für Trainingssimulationen und medizinische Ausbildung, Training und Fortbildung.

In den letzten Jahren wurden durch die Weiterentwicklung der Extended Reality (XR)-Technologien, einschließlich Virtual und Augmented Reality, innovative Mensch-Computer-Schnittstellen geschaffen, die den natürlichen menschlichen Bewegungen, Interaktionen und Erfahrungen immer ähnlicher werden.

Angesichts der zunehmenden Komplexität medizinischer Verfahren und Aufgaben sowie der zeitlichen Begrenzung der Arbeit von Auszubildenden besteht in der Medizin ein Bedarf an Werkzeugen, die das Lernen beschleunigen und die Realitätsnähe der Ausbildung verbessern. Neue XR- und andere Simulationstechnologien finden zunehmend Anwendung in der medizinischen Ausbildung und ermöglichen mehr Interaktivität, Vertiefung und Sicherheit in der medizinischen Ausbildung.

Im Gespräch mit

Studien wie die von der Harvard Business Review belegen, dass VR-geschulte Chirurg:innen ihre Gesamtleistung im Vergleich zu ihren traditionell geschulten Kolleg:innen nicht nur um 230 % steigern konnten, sondern auch chirurgische Eingriffe schneller und präziser durchführen. Welche weiteren Potenziale sehen Sie im Einsatz von VR für das Gesundheitswesen?

MH: In virtuellen Welten lassen sich Eingriffe beliebig oft wiederholen. Wir können Fehler erkennen, analysieren und ausmerzen. Dabei durchleben wir die Eingriffe so realistisch wie möglich – in einer Umgebung und mit Hintergrundgeräuschen, die der tatsächlichen Situation sehr nahekommen. Operationen lassen sich schulen, als ob man tatsächlich das Skalpell in der Hand hätte. Das gilt natürlich nicht nur für Chirurginnen und Chirurgen, sondern auch für andere Fachkräfte wie Pflegepersonal oder Rettungskräfte. Durch VR-Simulationen können sie seltene oder komplexe Fälle trainieren und so ihre Fähigkeiten verbessern, ohne Risiken für Patientinnen und Patienten einzugehen. Darüber hinaus können VR-Simulationen auch zur Vorbereitung auf medizinische Notfälle oder Katastrophen eingesetzt werden.

Interessant wird VR auch bei der Behandlung von Phobien und psychischen Störungen wie Angstzuständen und Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). Die Patientinnen und Patienten können in einer kontrollierten und sicheren Umgebung mit ihren Ängsten konfrontiert werden, um sie zu überwinden. Das funktioniert auch im positiven Sinne, übrigens auch bei Tieren. So sollen Kühe, denen man in der virtuellen Welt eine saftige grüne Wiese zeigt, mehr Milch geben.

Ähnlich positiv kann eine passende virtuelle Umgebung die Aufmerksamkeit der Patientinnen und Patienten auf sich ziehen und durch die Ablenkung Schmerzen reduzieren.

In der Zusammenarbeit via Telemedizin können medizinisches Fachpersonal und Patientinnen und Patienten besser interagieren. Sind beispielsweise Hausarzt und Fachärztin sowie eine Patientin zusammengeschaltet, können während des Gesprächs nochmal die Röntgenbilder angeschaut oder die Herzfrequenz live veranschaulicht werden. Nichts ist undenkbar.

In virtuellen Welten lässt es sich auch prima sporteln oder entspannten. Daher kann VR auch zur Förderung eines gesunden Lebensstils eingesetzt werden, indem es Patientinnen und Patienten interaktive Übungen am Strand, in den Bergen oder im Spa-Bereich bietet.

Insgesamt bietet VR ein großes Potenzial für das Gesundheitswesen, um die Effektivität und Effizienz der medizinischen Versorgung zu verbessern und allen Beteiligten eine bessere Erfahrung zu bieten.

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Pfizer VR Training

Pfizer setzt auf praxisnahes Training bei Schlaganfallbehandlungen

 

Mit Hilfe der virtuellen Realität kann man sich in den menschlichen Körper hineinversetzen und Bereiche betrachten, die normalerweise unerreichbar sind. Das kann sicherlich auch für die die Elektronische Patientenakte interessant sein, oder?

MH: Gehen wir einmal davon aus, die ePA würde bereits über weitere Funktionen verfügen. Stellen Sie sich nun vor, Sie könnten ihre Gesundheitsdaten nicht nur auf Ihrem Handy einsehen, sondern sie aufgeräumt und optimal aufgearbeitet in einer virtuellen Welt erleben. Die ePA könnte ein begehbarer Raum sein, in dem Sie zukünftig Ihre Laborberichte interaktiv aufgearbeitet sehen könnten und ihre Arztbriefe chronologisch geordnet aus dem Bücherregal auf den Schreibtisch fliegen würden, wo sie die wichtigsten Aspekte direkt markiert lesen könnten. Vielleicht könnten Sie sogar gemeinsam mit einem Arzt oder einer Ärztin durch ihre Behandlungshistorie spazieren um den optimalen Blick auf Ihre Situation zu vermitteln.

Ihre Gesundheitsdaten können in einer dieser virtuellen Umgebung als virtuelle Objekte dargestellt werden, die eine visuelle Darstellung der Daten ermöglichen. Schauen Sie sich das Diagramm Ihrer Blutzuckerwerte als 3D-Objekt dargestellt an und erkunden Sie es interaktiv. Vielleicht direkt zusammen mit Ihrer Diabetologin, obwohl sie viele Kilometer getrennt voneinander in anderen Räumen sitzen.

Im Zusammenspiel mit Künstlicher Intelligenz wäre es für Ärztinnen und Ärzte oder Pflegekräfte sogar möglich, sich interaktiv ein Bild vom Gesundheitszustand machen und von der KI berechnen zu lassen, wie Therapien und Behandlungen wirken werden.

Durch eine VR-Umgebung können Patientinnen und Patienten ihre Gesundheitsdaten, die zuvor in der ePA gesammelt wurden, besser verstehen und sich stärker mit ihrer eigenen Gesundheit auseinandersetzen.

Eine der wichtigsten Triebkraft für die zunehmende Einführung digitaler Tools wie VR im Gesundheitswesen ist der vieldiskutierte Bedarf an Kosteneinsparungen. Wie können Kliniken ihren Patient:innen die Angst nehmen, dass Virtual Reality den persönlichen Aspekt aus der Pflege nimmt?

MH: Die Einführung von Virtual Reality in der Pflege und medizinischen Versorgung kann bei manchen Patientinnen und Patienten Bedenken hervorrufen, dass die Technologie den persönlichen Aspekt der Pflege beeinträchtigen könnte. Schließlich befinden wir uns dabei oftmals an unterschiedlichen Orten oder kommunizieren gar zeitlich unabhängig voneinander. Aus meiner Sicht gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie Agierende im Gesundheitswesen, darunter auch Krankenkassen und Kliniken den Patientinnen und Patienten die Angst nehmen können.

Zunächst ist es wichtig, zu erklären, was VR ist und wie es in der (Kranken-)Pflege eingesetzt wird. Dabei geht es nicht um die üblichen akademischen Fachtexte sondern um einfache Erklärungen mit einem Storytelling, dass die individuellen Situationen und Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten abdeckt. Transparenz ist hierbei sehr wichtig, um ein positives Gefühl zu vermitteln. Wenn wir uns als Krankenkasse mit Zukunftstechnologien auseinandersetzen, sehen diese als Unterstützung der Fachkräfte, nicht als Ersatz. Wir müssen also sicherstellen und auch in der Kommunikation betonen, dass VR die Versorgung und Pflege unterstützt, aber die Beziehung zwischen Patientinnen und Patienten und Medizinischem Personal nicht ersetzt. Das gilt für VR ebenso wie für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Am besten funktionieren neue Technologien in Zusammenarbeit mit den Fachkräften. Wenn diese Technologien mit einem sinnvollen ethischen Kompass entwickelt werden, können sie auch hochgradig inklusiv sein. Beispielsweise bei der Behandlung stigmatisierter Krankheitsbilder oder bei Menschen, denen mobile Barrieren einen Besuch beim Arzt ohne VR gar nicht ermöglichen würden.

Kliniken können letztlich auch Feedback von Patientinnen und Patienten einholen, um sicherzustellen, dass VR effektiv eingesetzt wird und die Bedürfnisse und Präferenzen aller Beteiligten berücksichtigt werden. Durch regelmäßige Evaluierungen kann sichergestellt werden, dass VR als Ergänzung zur Pflege genutzt wird und nicht als Ersatz für den persönlichen Kontakt dient.

Vor welchen Herausforderungen steht das deutsche Gesundheitswesen derzeit bei der Einbindung digitaler Hilfsmittel?

MH: Im deutschen Gesundheitswesen geht die Digitalisierung sehr langsam voran. Das hat unterschiedliche Gründe. Gesundheitsdaten genießen in Deutschland den höchsten Schutz. Die Verarbeitung erfordert entsprechend besondere Sicherheitsmaßnahmen, um die Vertraulichkeit und Integrität dieser Daten zu gewährleisten. Digitale Hilfsmittel müssen daher einerseits den hohen Datenschutzanforderungen entsprechen und andererseits trotzdem intuitiv nutzbar sein. Um diesen Zielkonflikt aufzulösen müssen Datenschützende, Gesetzgebende und Entwickelnde gut zusammenarbeiten.

Wenn wir nutzerfreundliche Anwendungen haben, die den Datenschutz optimal gewährleisten, stellt sich schon die nächste Frage – die der Interoperabilität. Die verschiedenen digitalen Anwendungen im Gesundheitswesen müssen miteinander kompatibel sein, um einen reibungslosen Informationsaustausch zwischen Kliniken, Krankenkassen und anderen Agierenden zu ermöglichen. Hierfür müssen einheitliche Standards und Schnittstellen definiert werden.

Bei der BARMER setzen wir aktuell einen Fokus auf das Thema Digitalkompetenz – intern wie extern. Wir sehen, dass die Akzeptanz digitaler Services eng verbunden mit der technischen Kompetenz und Vertrautheit mit der Technologie ist. Es ist daher wichtig, dass Versicherte und Gesundheitspersonal ausreichend geschult werden, um digitale Hilfsmittel effektiv nutzen zu können. Eine Grundlage dazu ist mit der Möglichkeit geschaffen worden, Leistungen für den Erwerb digitaler Gesundheitskompetenz in den Katalog der Gesetzlichen Krankenkasse aufzunehmen.

Neben den regulatorischen und datenschutzrechtlichen Herausforderungen, werden sich aber auch immer wieder ethische Fragen jenseits der allgemein gültigen Gesetzgebung auftun. Als BARMER sind wir die erste Krankenkasse in Deutschland, die sich aktiv mit dem Thema der Corporate Digital Responsibility beschäftigt und einen jährlichen CDR-Bericht veröffentlicht. Für alle Zukunftsfragen, die noch nicht gesetzlich geregelt sind, haben wir mit wissenschaftlicher Unterstützung Werte erarbeitet. Diese helfen uns, Antworten auf solche Zukunftsfragen zu finden. So können wir auch klar sagen, dass uns Souveränität und Solidarität sehr wichtig sind und wir daher die freiwillige Datenspende befürworten. Ähnliche ethische Diskurse müssen auch öffentlich geführt werden, um auf der Basis transparenter Informationen und einem grundlegenden Verständnis von Technik souveräne Meinungen von mündigen Patientinnen und Patienten überhaupt zu ermöglichen.

Vielen Dank liebe Maria für das interessante Gespräch!

Über Maria HinzMaria Hinz

Maria Hinz, Expertin für digitale Transformation und Kommunikation, verfügt über mehr als zehn Jahre Erfahrung in der internetgetriebenen Welt von Unternehmen, Verbänden und Politik. Sie setzt sich leidenschaftlich für eine verantwortungsvolle Digitalisierung der Welt ein und strebt nach Exzellenz und Innovation im Gesundheitswesen der Zukunft. Maria Hinz begeistert durch authentische weibliche Führung und inspiriert Menschen, indem sie komplexe Themen greifbar macht.

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